Individuierung durch Vergesellschaftung – Meads sozialpsychologische Formel – bedeutet, dass soziale Prozesse ins Einzelbewusstsein hereingenommen und verhaltenskontrollierende Instanzen internalisiert werden. Die eigene Identität bildet sich als Zusammen des sozialkonformen “Me” und des impulsiven, schöpferischem “I”. In einer dialektischen Bewegung formt Gesellschaft das Individuum und das Individuum die Gesellschaft. So betonen Berger und Luckmann, dass
„die Beziehung zwischen dem Menschen als dem Hervorbringer und der gesellschaftlichen Welt als seiner Hervorbringung dialektisch ist und bleibt. Das bedeutet: der Mensch – freilich nicht isoliert, sondern inmitten seiner Kollektivgebilde – und seine gesellschaftliche Welt stehen miteinander in Wechselwirkung. Das Produkt wirkt zurück auf seinen Produzenten. Externalisierung und Objektivation – Entäußerung und Vergegenständlichung – sind Bestandteile in einem dialektischen Prozess. […] Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt.“ (Berger; Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, FfM 1980, S. 65)
Im Anschluss an Mead wäre die These zu postulieren, dass erst Gesellschaft aus dem „impulsiven Wesen“ ein sogenanntes „rationales Wesen“ macht. Der “generalized other” gibt dem Einzelnen seine einheitliche Identität.
„In der Form des verallgemeinerten Anderen beeinflußt der gesellschaftliche Prozeß das Verhalten der ihn abwickelnden Individuen, das heißt, die Gemeinschaft übt Kontrolle über das Verhalten ihrer einzelnen Mitglieder aus, denn in dieser Form tritt der gesellschaftliche Prozeß oder die Gemeinschaft als bestimmender Faktor in das Denken des Einzelnen ein. […] nur dadurch, daß einzelne Individuen die Haltung oder die Haltungen des verallgemeinerten Anderen gegenüber sich selbst einnehmen, ist ein logisches Universum möglich, jenes System gemeinsamer oder gesellschaftlicher Bedeutungen, das jeder Gedanken als seinen Kontext voraussetzt.“ (Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, FfM 1968, S. 198)
Freilich ging Mead nicht davon aus, dass sich die Normen einer Gemeinschaft nicht verändern können durch individuelle Initiative. Die kulturellen und sozialen Ordnungsmuster subordinieren das Subjekt nicht total, wie noch Foucault annahm. Mit Derrida und Lacan teilt Foucault die Idee eines vorsinnhaften Systems des Diskurses, welchem die Akte des Subjekts radikal subordiniert sind. Intentionsfreie Systeme übernehmen damit die quasi-transzendentale Funktion der Weltkonstitution. Elementarste Denkoperationen bleiben im Schematismus der ihnen vorgängigen Diskursordnung gefangen. Die den Wissensformationen anhängenden disziplinarischen Machtmechanismen bringen, so die These Foucaults, überhaupt erst die Objekte hervor, über welche sie Macht ausüben. Das heißt, das Subjekt entsteht als Produkt der Unterdrückung. Somit wird auch jeder Widerstand, welchen die Subjekte theoretisch leisten können, vom Machtgefüge selbst erzeugt; der Widerstand ist den Kalkulationen der Macht inhärent. Weil also der Widerstand im Voraus miteinkalkuliert, mithin erzeugt wird, kann er das System nicht ernstlich gefährden. Foucault schließt die Möglichkeit, dass so etwas wie eine innere Inkonsistenz des Systems eine Bewegung hervorbringen kann, welche ebendieses restrukturieren und seine Selbstreproduktion verhindern könnte, aus. Mit der Hinwendung zur Analyse sozialer Machtgewebe begreift Foucault das Soziale als einen ununterbrochenen Prozess strategischer Handlungskonflikte. Die Macht zielt dabei nicht darauf, Handlungsziele des strategischen Gegners zu vereiteln, sondern Verhaltensweisen des sozialen Gegenspielers durch Disziplinierung zu routinisieren und dadurch erstarren zu lassen. Die kritische Gesellschaftstheorie Foucaults beschreibt den sozialen Raum als ein von feinsten produktiven Machtbeziehungen durchzogenes Gebilde. Macht definiert sich als „die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen.“ (Foucault, Der Wille zum Wissen, in ders., Die Hauptwerke, FfM 2008, S. 1098) Das Sozialapriori ist absolut, da die Macht allgegenwärtig ist, sie „von überall kommt“ (ebd.) und es kein „Entrinnen“ (ebd., S. 1100) gibt. Macht- und Wissensformen begründen eine diskursive Ordnung parallel zu einer Gesellschaft, welche sich über dem eliminierten Subjekt ausbreitet, sodass Machtwirkungen einzig von jener zu diesem verlaufen. Das derart disziplinierte Individuum ist innerhalb sozialer Rahmenbedingungen fixiert. Die Diskursanalyse der Disziplinierung lässt sich subjekt- und sozialphilosophisch ausdeuten. Sodann gilt:
„Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er.“ (Foucault, Überwachen und Strafen, in: Die Hauptwerke, FfM 2008, S. 733)
Hier konstituiert sich das Sozialapriori durch einen weit reduzierten Subjektbegriff, welcher gesellschaftliche Veränderungen nur durch den Versuch einer Unterminierung des Diskurses thematisieren kann – womit sich gleichwohl das soziale Apriori lediglich verschieben, nicht jedoch aufheben würde. Die sich zur etablierten Macht konträr aufführende Gegenmacht verhält sich wie die Macht selbst.
„Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht.“ (Foucault, Der Wille zum Wissen, ebd., S. 1100)
Jegliche Gegenmacht ist immer schon den Aporien der Macht im Allgemeinen eingegliedert. Mead dagegen bietet in seiner Sozialpsychologie durch die Instanz des “I” eine Perspektive, mit welcher Intervention und Zugriff auf das Sozialapriori möglich ist. Das “I” reagiert auf die Identität “Me”, welche sich durch Übernahme der Haltungen anderer entwickelt hat. Das “I”
„ist die Antwort des Einzelnen auf die Haltungen der anderen ihm gegenüber, wenn er eine Haltung ihnen gegenüber einnimmt.“ (Mead, ebd., S. 221)
Sozialpsychologische Theorien, in denen es keine Instanz des “I” im Sinne Meads gäbe, gerieten in die autologische Falle, da die Selbstreflexion der Theorie in der Paradoxie enden würde – sie könnte plötzlich ihr eigenes Zustandekommen nicht mehr erklären. Während Foucault hier noch in die Falle tappt, stellen sich derlei Probleme in der Systemtheorie nicht. Mich interessiert im Folgenden, wie jene Dialektik von Individuierung und Vergesellschaftung sich in der Erziehung niederschlägt. Dazu rekurriere ich auf die Pädagogik Luhmanns, welche sich durch einige interessante gedankliche Besonderheiten auszeichnet.
„Sozialisation vermittelt natürliche und soziale Verhaltensbedingungen als Selbstverständlichkeiten. Das führt im sozialen System zu Schwierigkeiten und Konflikten, wenn man die Erfahrung machen muß, daß das, was für den einen selbstverständlich ist, bei den anderen keineswegs glatt durchgeht. Erziehung thematisiert deshalb das, was sie zu erreichen sucht, und weckt damit einen Sinn für die Kontingenz der Festlegungen: Es ist zwar richtig, aber auch anders möglich. So wird der Nachwuchs besser auf die Varietät von Verhaltensbedingungen vorbereitet, mit der ihn die Gesellschaft konfrontieren wird.“ (Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, FfM 2002, S. 53)
Erweckt Erziehung den Sinn für die Kontingenz der Festlegungen, kann der Vorgang der Emanzipation des Einzelnen von der Gewalt des Allgemeinen nicht mehr umstandslos auf die Subsumption des Einzelnen unters Allgemeine hinauslaufen.
„Die internalisierende Verarbeitung dieser Konflikte [der differenzierten Wahrnehmung von und Konfrontation mit vervielfältigten und spannungsreichen normativen Erwartungen] führt zu einer Autonomisierung des Selbst: das Individuum muß sich gewissermaßen als selbsttätiges Subjekt selber setzen. Insofern wird Individualität nicht in erster Linie als Singularität, nicht als askriptives Merkmal, sondern als Eigenleistung gedacht – und Individuierung als eine Selbstrealisierung des Einzelnen.“ (Habermas, Sprachtheoretische Grundlegung der Soziologie, FfM 2009, S. 247)
Wie aber kann Erziehung diese intrasubjektive, extraordinäre Verständigung mit sich selbst, ja dieses so wichtige In-Konflikt-Geraten mit sozial ausgezeichneten Normen und Verhaltensweisen, die selbstverantwortende Existenz fördern, wenn ihr eigentliches Ziel darin besteht, die Zöglinge zu “trivialen Maschinen” zu erziehen? Den Begriff der trivialen Maschine entnehme ich hier im Anschluss an Luhmann von Foerster (dieser wiederum rekurriert auf Turing). Von Foerster differenziert bekanntlich zwischen trivialen und nichttrivialen Maschinen, wobei erstere durch eine eineindeutige Beziehung zwischen Input und Output definiert ist, während letztere
„ganz andere Geschöpfe [sind]. Ihre Input-Output-Beziehung ist nicht invariant, sondern wird durch den zuvor erzeugten Output der Maschine festgelegt. Mit anderen Worten, ihre vorausgegangenen Arbeitsgänge legen ihre gegenwärtigen Reaktionen fest. Obwohl diese Maschinen auch deterministische Systeme sind, sind sie schon allein aus praktischen Gründen nicht vorhersagbar: ein einmal nach einem bestimmten Input beobachteter Output wird höchstwahrscheinlich zu späterer Zeit, auch wenn der Impuls gleich ist, ein anderer sein.“ (von Foerster, Wissen und Gewissen, FfM 1993, S. 207)
Nichttriviale Maschinen zeichnen sich dadurch aus, dass eine einmal beobachtete Reaktion auf einen gegebenen Stimulus zu einem späteren Zeitpunkt bei gleichem Stimulus anders ausfallen kann. Die Verhaltensvariationen nichttrivialer Maschinen sind im Hinblick auf maschineninterne operationelle Zustände zu erklären. Dabei sind nichttriviale Maschinen analytisch indeterminierbar, unvorhersagbar, synthetisch deterministisch und geschichtsabhängig (vgl. ebd., S. 251). Luhmann seinerseits greift die Differenzierung zwischen trivialen und nichttrivialen Maschinen im Kontext des Erziehungssystems auf. Er meint,
„daß die Erziehung zu richtigem Wissen und richtigem Verhalten zu einer Trivialisierung der Zöglinge führt. […] Trivialmaschinen sind zuverlässige Maschinen. […] In den Ohren der Pädagogen mag es schrecklich klingen, wenn man ihr Geschäft als Trivialisierung der Menschen beschreibt. Wenn man den Begriff definitionsgenau (und nicht abwertend) verwendet, liegt er jedoch genau auf der Linie dessen, was man als Erziehung beobachten kann.“ (Luhmann, ebd., S. 77 f.)
Triviale Maschinen sind analytisch determinierbare (und wiederum synthetisch deterministische), also gehorsame und („von außen“) voraussagbare Systeme. Schüler werden zu solchen diszipliniert. Prüfung und Klausur sind dabei das Mittel der Wahl. Während Luhmann die Trivialisierung der Schüler in bestimmten Bereichen als notwendig erachtet, findet etwa Foucault einen ganz anderen Ton, welcher Trivialisierung (unausgesprochen) verurteilt.
„Die Prüfung kombiniert die Techniken der überwachenden Hierarchie mit denjenigen der normierenden Sanktion. Sie ist ein normierender Blick, eine qualifizierende, klassifizierende und bestrafende Überwachung. Sie errichtet über den Individuen eine Sichtbarkeit, in der man sie differenzierend behandelt. Darum ist in allen Disziplinaranstalten die Prüfung so stark ritualisiert. In ihr verknüpft sich das Zeremoniell der Macht und die Formalität des Experiments, die Entfaltung der Stärke und die Ermittlung der Wahrheit. Im Herzen der Disziplinarprozeduren manifestiert sie die subjektivierende Unterwerfung jener, die als Objekte wahrgenommen werden, und die objektivierende Vergegenständlichung jener, die zu Subjekten unterworfen werden. Die Überlagerung von Machtverhältnissen und der Wissensbeziehung erreicht in der Prüfung ihren sichtbarsten Ausdruck.“ (Foucault, Überwachen und Strafen, in: ebd., S. 890)
Die Macht will die Erwartbarkeit der Subjekte sicherstellen. Derart liegt Trivialisierung auf der Linie der etablierten pädagogischen Praxis, wobei kontrafaktisch zu dieser gerade die Nichttrivialisierung der Zöglinge als Telos normativ ausgezeichnet werden könnte. So meint, im Kontrast zu Luhmann, von Foerster:
„Wenn wir […] anfangen, einander zu trivialisieren, dann werden wir nicht nur alle bald blind sei, wir werden vielmehr blind gegenüber unserer Blindheit sein. Wechselseitige Trivialisierung reduziert die Anzahl der Lebensmöglichkeiten, ist also dem ethischen Imperativ, den ich eingangs formuliert habe [‚Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird!‘], direkt entgegengesetzt. Die uns gestellte Aufgabe ist vielmehr: Enttrivialisierung.“ (von Foerster, ebd., S. 252)
„Trivialisierung ist ein höchst gefährliches Allheilmittel, wenn der Mensch es auf sich selbst anwendet. […] Der Schüler kommt zur Schule als eine unvorhersagbare ‚nicht-triviale-Maschine‘. Wir wissen nicht, welche Antwort er auf eine Frage geben wird. Will er jedoch in diesem System Erfolg haben, dann müssen die Antworten, die er auf unsere Fragen gibt, bekannt sein. […] Test sind Instrumente, um ein Maß der Trivialisierung festzulegen. Ein hervorragendes Testergebnis verweist auf vollkommene Trivialisierung: der Schüler ist völlig vorhersagbar und darf daher in die Gesellschaft entlassen werden. Er wird weder irgendwelche Überraschungen noch auch irgendwelche Schwierigkeiten bereiten.“ (ebd., S. 208)
Von Foerster unterlässt an dieser Stelle eine wichtige Differenzierung, auf welche ich mit Luhmann später noch zu sprechen kommen werde. Von Foerster berücksichtig nicht, dass Schüler sich auf die Trivialisierung in den Institutionen des Erziehungssystem einlassen können, jedoch in einem ironischen Sinne, sodass sie sich der Trivialisierung beugen gerade in dem Bewusstsein, dass diese auf die Interaktionen im Erziehungssystem beschränkt sind, nicht jedoch auf Interaktionen außerhalb desselben. Wer hervorragende Tests schreibt, kann immer noch für Überraschungen sorgen und Schwierigkeiten bereiten in anderen sozialen Systemen. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Trivialisierung in der Praxis des Erziehungssystems in anderen Bereichen durchgehalten oder wiederum institutionell verordnet wird, hoch. Dabei ist die Frage, inwiefern zu konzedieren wäre, dass Bereiche des Erziehungssystems auf Trivialisierung notwendigerweise angewiesen sind.
„Eine nichttriviale Maschine könnte vielleicht Gefallen daran finden, die englischen Sätze mit türkischen Vokabeln zu garnieren […].“ (Luhmann, ebd., S. 78)
Damit die Regelsysteme für bestimmte Diskurse – Mathematik, Sprachen, Naturwissenschaften – erlernt und internalisiert werden, wird das Instrument der Klausur angesetzt, welches die Trivialisierung der zu Unterrichtenden, wie bereits mit von Foerster bemerkt, offensichtlich zum Ziel hat.
„Ein guter Indikator für diese Tendenz zur Trivialisierung ist die im Unterricht und dann in Prüfungen verwendete Fragetechnik. Der Lehrer bzw. Prüfer stellt eine Frage, obwohl er die Antwort schon weiß. Das ist im sozialen Alltag unüblich und, wenn es herauskommt, peinlich. In der Schule ist dies ein Standardverfahren der Kontrolle der Trivialisierung. Dieselbe Frage müßte, wenn wiederholt, die gleiche Antwort erhalten. Dabei gerät der Gefragte nicht selten in die schwierige Lage, nicht nur die richtige Antwort finden zu müssen, sondern auch das herausbekommen zu müssen, was der Fragende für die richtige Antwort hält.“ (ebd., S. 78)
Die Subordinierung der Subjekte unter soziale und kulturelle Ordnungssysteme erfährt in den Bildungseinrichtungen eine offensichtliche Verengung auf die Subordinierung der Adepten unters Curriculum. Spencer-Brown offeriert daher in Laws of Form, ohne dass es unmittelbar in den Buchkontext passen würde, das Angebot:
„Mozart wurde nie zur Schule geschickt und Gauss erst, als er bereits mehr wußte, als ihm die Schule beibringen konnte. Wenn du nicht haben willst, daß die Talente deines Kindes durch ein fehlgeleitetes Schulsystem zerstört werden, ruf mich bitte an unter +44 (0) 171 624 2358 um die Situation zu besprechen.“ (Spencer-Brown, Laws of Form, Lübeck 1997, S. XIII)
Ohne in Spencer-Browns durchaus wohldurchdachte Konzeptualisierung einer alternativen Pädagogik an dieser Stelle en detail einzugehen – seine Einladung ist vollends ernst gemeint –, könnte man, so die gedankliche Stoßrichtung, offensichtlich
„versucht sein, […] ein Gegenmodell der Erziehung zur Unzuverlässigkeit, zur überraschenden Kreativität, zur Unsinnsproduktion, die etwa gemeinten Sinn erraten läßt, zur ironischen Behandlung von Situationen oder zur ständigen Dekonstruktion der gerade verwendeten Schemata zu entwerfen. Das hätte nicht nur wenig Aussicht auf Realisierung, sondern würde auch dem berechtigten Interesse der Gesellschaft an Vorhersehbarkeit widersprechen. Denn selbstverständlich sind und bleiben Menschen trotz Schulbesuch nichttriviale Maschinen. Was geschieht aber, wenn nichttriviale Systeme sich in Situationen finden, in denen sie der Trivialisierung ausgesetzt sind? Sie stellen sich durch Selbstsozialisation darauf ein. Oder anders gesagt: sie lernen damit umzugehen. Sie bauen eine Reflexionsschleife ein, die ihnen Bedingungen verdeutlicht, unter denen es empfehlenswert ist, sich wie ein triviales System zu verhalten.“ (Luhmann, ebd., S. 78 f.)
Diese Reflexionsschleife jedoch hat sich, wie es scheint, selbst destruiert durch die Trivialisierung dieser Schleife selbst – ihr Ausgang ist immer: Assimilation ans Triviale. Die in der Schule etablierte Methodik des Dressierens der Bereitschaft, einer trivialen Maschine gleich sich zu verhalten, setzt sich in anderen Funktionssystemen nahtlos fort. Der Mensch ist eine nichttriviale Maschine, doch die Indoktrination von spezifischen Verhaltenserwartungen wandelt ihn tatsächlich zur trivialen Maschine. Denn während es in den Sprachen in der Tat schlecht wäre, „englischen Sätze mit türkischen Vokabeln zu garnieren“, da ist es in „moralischen“ Bereichen, in denen Kritikfähigkeit eingeübt wird, gerade erforderlich, die bestehenden Ideologien mit Aufruhr zu garnieren. Das Erziehungssystem hat also beides zu leisten; es muss sowohl das Denken gemäß den Grundsätzen einer trivialen als auch einer nichttrivialen Maschine lehren. Das etablierte Erziehungs- und Bildungssystem jedoch fokussiert die Lehrprogrammatik zu stark auf Trivialisierung, wohl weil in den Funktionssystemen Wirtschaft und Wissenschaft, den Hauptauswanderungszweigen der Schul- und Universitätsabgänger – gerade triviales Denken die Norm der allermeisten Tätigkeiten ausmacht und Erziehung ja bekanntlich stillschweigend auf die Erlangung von individueller Marktgängigkeit getrimmt ist. Die kritische Tätigkeit aber, welche der impulsiven, kreativen, extraordinären Instanz des Meadschen “I” überantwortet ist, verkümmert derart. “I” ist eine nichttriviale Maschine. Gerade nichttriviale Maschinen sind Maschinen, welche die Nichttrivialität sozusagen trivialisieren sollten, um so Disziplinierung, kulturelle Ordnungsmuster und sozial eingespielte Handlungsgewohnheiten an der rechten Stelle zu durchbrechen.
„Ich würde, auf die Gefahr hin. daß Sie mich einen Philosophen schelten, der ich nun einmal bin, sagen, daß die Gestalt, in der Mündigkeit sich heute konkretisiert, die ja gar nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann, weil sie an allen, aber wirklich an allen Stellen unseres Lebens überhaupt erst herzustellen wäre, daß also die einzige wirkliche Konkretisierung der Mündigkeit darin besteht, daß die paar Menschen, die dazu gesonnen sind, mit aller Energie darauf hinwirken, daß die Erziehung eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand ist. Ich könnte mir etwa denken, daß man auf den Oberstufen von höheren Schulen, aber wahrscheinlich auch von Volksschulen gemeinsam kommerzielle Filme besucht und den Schülern ganz einfach zeigt, welcher Schwindel da vorliegt, wie verlogen das ist; daß man in einem ähnlichen Sinn sie immunisiert gegen gewisse Morgenprogramme, wie sie immer noch im Radio existieren, in denen ihnen sonntags früh frohgemute Musik vorgespielt wird, als ob wir, wie man so schön sagt, in einer ‚heilen Welt‘ leben würden, eine wahre Angstvorstellung im übrigen; oder daß man mit ihnen einmal eine Illustrierte liest und ihnen zeigt, wie dabei mit ihnen unter Ausnutzung ihrer eigenen Triebbedürftigkeit Schlittengefahren wird; oder daß ein Musiklehrer, der einmal nicht aus der Jugendmusikbewegung kommt, Schlageranalysen macht und ihnen zeigt, warum ein Schlager oder warum auch meinetwegen ein Stück aus der Musikbewegung objektiv so unvergleichlich viel schlechter ist als ein Quartettsatz von Mozart oder Beethoven oder ein wirklich authentisches Stück der neuen Musik. So daß man einfach versucht, zunächst einmal überhaupt das Bewußtsein davon zu erwecken, daß die Menschen immerzu betrogen werden, denn der Mechanismus der Unmündigkeit heute ist das zum Planetarischen erhobene mundus vult decipi, daß die Welt betrogen sein will.“ (Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, FfM 1970, S. 146)