Es gibt Fälle, da instrumentalisieren große IT-Unternehmen Milliarden von Computernutzern, um für sich Arbeit zu leisten. Die Arbeit besteht dabei zumeist aus sogenannten „micro tasks“. Die Abarbeitung derselben erfolgt ohne Entlohnung und häufig ohne Wissen der Betroffenen. Ein Beispiel, an welchem sich dies veranschaulichen lässt, ist der Dienst reCAPTCHA von Google. Zum Einsatz kommen reCAPTCHA etwa dann, wenn man sich bei Onlinediensten anmelden oder Onlineformulare ausfüllen will. Hierbei stoßt man früher oder später auf eine Eingabemaske, in welcher verzerrte Buchstaben erkannt, Straßen- oder Hausschilder korrekt identifiziert oder andere Abbildungen indexiert werden müssen. Die reCAPTCHA dienen der Abwehr von Bots, da die gestellten Miniaufgaben in der Regel nicht automatisiert von Computern gelöst werden können. Dies ist zumindest der vorgeschobene Grund. Faktisch jedoch dienen reCAPTCHA primär dazu, Computern dabei zu helfen, nicht eindeutig erkennbare Buchstaben, Hausnummern oder Straßennahmen aus dem Google Books Projekt sowie Google Street View digital zu erfassen. Somit wirken zahllose Mediennutzer, indem sie reCAPTCHA lösen, an der Verbesserung von Text- und Bilderkennungssoftware mit. Und dies zumeist, ohne es zu wissen.
Continue reading “Vom Rückgrat der künstlichen Intelligenz”Privacy Literacy und seine Probleme
Angesichts stetig steigender Risiken für den Schutz der informationellen Privatheit im Kontext vernetzter informationstechnischer Systeme werden immer häufiger Forderungen nach Privacy Literacy laut. Privacy Literacy meint, dass Nutzerinnen und Nutzer digitaler Medien eine gewisse Bandbreite an Kompetenzen der Mediennutzung erlernen und besitzen sollen. Die Ausbildung von Mediennutzungsfähigkeiten, welche das Schutzverhalten hinsichtlich der eigenen Privatheit betreffen, kann als eine Antwort auf das Problem des „privacy paradox“ gesehen werden. Das „privacy paradox“ besagt, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen den Bekundungen über die Wichtigkeit des Schutzes der eigenen Privatheit und dem konkreten Mediennutzungsverhalten, im Rahmen dessen kaum auf den Privatheitsschutz geachtet wird. Dieser Kluft zwischen Überzeugung und Handeln kann durch Privatheitskompetenzen begegnet werden. Nutzerinnen und Nutzer digitaler Medien werden qua Bildung gewissermaßen „ermächtigt“, digitale Medien beziehungsweise digitale Plattformen und Services so zu nutzen, dass die eigene Privatheit geschützt wird. Continue reading “Privacy Literacy und seine Probleme”
Design und Medienwirkungen bei Social Media Plattformen
Unternehmen wie Facebook, Twitter oder YouTube, welche einschlägige Social-Media-Plattformen betreiben, möchten nach außen hin den Anschein erwecken, ihre Mission bestünde darin, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, Menschen zu vernetzen oder ihnen die Möglichkeit zu geben, Ideen oder Informationen zu teilen. Faktisch aber sind die wesentlichen Handlungsziele, welche die genannten Organisationen verfolgen, primär ökonomischer Natur. Demnach richten sich auch die Entscheidungen, welche das Design beziehungsweise die algorithmische Gestaltung der betriebenen Plattformen ausmachen, an ökonomischen Zielgrößen aus. Dies hat aufgrund der immensen Macht, welche die benannten Plattformen beispielsweise über die Gestaltung des öffentlichen Diskurses oder die politische Lage von Gesellschaften haben, in den letzten Jahren zu einigen durchaus als sehr negativ zu bewertenden gesellschaftlichen Entwicklungen geführt, welche es abzuwenden gilt. Um dies zu erreichen, liegt es nahe, das Design der Plattformen zu verändern, sodass sich auch ein anderes Nutzerverhalten manifestieren kann. Dies jedoch bedeutet gleichzeitig, dass bisherige Datenökonomiemodelle gewisse Einschränkungen erfahren. Eine solche Einschränkung ist angesichts der immensen gesamtgesellschaftlichen Medienwirkungen, welche die genannten Plattformen zeitigen, dringend geboten. Wie mit einem verbesserten Plattformdesign aktuelle Probleme rund um digitale soziale Netzwerke adressiert werden können, soll im Folgenden überblicksartig konkretisiert werden. Continue reading “Design und Medienwirkungen bei Social Media Plattformen”
Zur Linguistik des Furzes
Der Furz ist ein hochsoziales Phänomen. Zu prüfen wäre, inwiefern er sich als anales Derivat zur oralen Lautproduktion kommunikationstheoretischen Kategorien fügt. Sloterdijk, einer der ganz wenigen, der eine linguistische Situierung des Furzes wagt, wenn auch nur auf ein paar Zeilen, schreibt:
“Semiotisch rechnen wir den Furz in die Gruppe der Signale, also der Zeichen, die weder etwas symbolisieren noch abbilden, sondern Hinweise auf einen Umstand geben.” (Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt am Main 1983, S. 287)
Der Furz ist ein Grenzphänomen, welches sowohl als reines biologisches Körperverhalten verstanden werden kann als auch als bedeutungsvages Signal. Er ist ein signifikanter Auslöser des Verhaltens anderer. Zumeist geht es dann um eine kommunikative Verfeinerung des Geschehenen. In Sekundenbruchteilen klärt sich, ob der Furz in humoristischer Absicht getätigt wurde oder doch als peinliches Unterfangen klammheimlich übergangen werden sollte. Wird der Furz zu humoristischen Zwecken eingesetzt, besitzt er eine intentionale Dimension – im Gegensatz zur Nicht-Intentionalität des rein biologischen Körperverhaltens – und einen an sich klaren Informationswert. Geübte Furzer mit analverbalen Kompetenzen – Personen mit häufigem Meteorismus dürften hier privilegiert sein – provozieren eine situationsgerechte Platzierung der Flatulenz. Der “Spaßfurzer” legt Einspruch gegen die zivilisatorische Abspaltung und Exilierung der “niederen”, “animalischen” Körperfunktionen ein. Continue reading “Zur Linguistik des Furzes”
Reden und Schweigen
„Du verläßt die Universität. Du gehst zu einer Dinnerparty. Es gibt eine Gesprächspause. Schnell, irgendwer, sage etwas, irgend etwas, bevor eine angsterregende Realität Platz greift. Schnell, vertusche sie, lenke uns ab von ihr, lasse die Unterhaltung weitergehen.“ (Spencer-Brown, Dieses Spiel geht nur zu zweit, Soltendieck 1994, S. 94)
Woher diese Angst vor dem Schweigen? Genau genommen geht mit dem Schweigen die Unterhaltung weiter. Watzlawicks erstes Axiom (vgl. Watzlawick, Menschliche Kommunikation – Formen, Störungen, Paradoxien, Bern 1969) besagt es; man kann nicht nicht kommunizieren – auch wer schweigt, kommuniziert. Auch Schweigen ist Verhalten, und man kann sich nicht nicht verhalten. Und Schweigen kann nur, wer kommunizieren könnte. Das eine ist nicht ohne seine Gegenseite denkbar. “[…] kontrollieren kann sein Sprachverhalten nur, wer auch schweigen kann.” (Luhmann, Soziale Systeme, FfM 1984, S. 209) Während aber das Schweigen bzw. die nicht-sprachliche Kommunikation etwa in Intimbeziehungen ein funktionierendes reziprokes Wechselspiel von idiosynkratischer Weltbestätigung, ein funktionierendes Wechselspiel ständigen Schonverständigtseins und damit eine funktionierende Liebesbeziehung andeutet, wirkt es in nicht-intimen Gesprächssituationen unter Anwesenden als Störfaktor. Continue reading “Reden und Schweigen”
Moral am Limit
Das Reflexivwerden der Moral nennt sich Takt. Takt besitzt, wer Moralisierungen reflektiert und auf ihr mögliches Konfliktpotential und auf Konfliktrisiken hin abtastet, sodass Konflikte durch Takt eingedämmt werden. Takt spielt demnach immer nur eine Rolle in der Interaktion Anwesender. Alsbald moralische Kommunikation nicht mehr zwischen Ego und Alter stattfindet, sondern zwischen Ego und Tertius das Verhalten Alters mit einer eigentümlich unbelasteten Vertrautheit moralisiert wird, kann Takt durch Opportunismus eingetauscht werden. Auch so werden Konfliktrisiken eingedämmt. Gegenüber einem Dritten kann auf die interaktionell notwendigen Rücksichten, welche Alter gegenüber erforderlich wären, verzichtet werden. Was in der Kommunikation mit Alter offensichtlich zum Konflikt führen würde, kann mit Tertius konfliktfrei besprochen werden. Dabei kann moralische Kommunikation, da sie über das wechselseitige Zuschreiben von Achtung und Missachtung zustande kommt, sich zu Verachtungsbekundungen, Zorn oder gar Wut steigern, um die Unmöglichkeit zu kompensieren, welche darin besteht, Kommunikationsteilnehmer, welche Moralgeboten nicht folgen, nicht exkludieren zu können. Continue reading “Moral am Limit”
Privatheit in Zeiten lernender Maschinen
Man stelle sich vor, man liefe an einer Überwachungskamera vorbei und eine Software analysierte allein anhand von Gesichtszügen die eigene sexuelle Orientierung, die Neigung zu kriminellen Handlungen, politische Überzeugungen oder wie vertrauenswürdig, dominant oder intelligent man wirkt. Dies klingt wie Science-Fiction. Ist es aber nur bedingt. Denn tatsächlich entstehen durch die Möglichkeiten moderner Technologien des Maschinenlernens beziehungsweise der künstlichen Intelligenz ungeahnte Möglichkeiten der Datenauswertung. Die Gesichtsanalyse ist dabei nur ein Bereich von vielen. Continue reading “Privatheit in Zeiten lernender Maschinen”
Erziehung zur trivialen Maschine
Individuierung durch Vergesellschaftung – Meads sozialpsychologische Formel – bedeutet, dass soziale Prozesse ins Einzelbewusstsein hereingenommen und verhaltenskontrollierende Instanzen internalisiert werden. Die eigene Identität bildet sich als Zusammen des sozialkonformen “Me” und des impulsiven, schöpferischem “I”. In einer dialektischen Bewegung formt Gesellschaft das Individuum und das Individuum die Gesellschaft. So betonen Berger und Luckmann, dass
„die Beziehung zwischen dem Menschen als dem Hervorbringer und der gesellschaftlichen Welt als seiner Hervorbringung dialektisch ist und bleibt. Das bedeutet: der Mensch – freilich nicht isoliert, sondern inmitten seiner Kollektivgebilde – und seine gesellschaftliche Welt stehen miteinander in Wechselwirkung. Das Produkt wirkt zurück auf seinen Produzenten. Externalisierung und Objektivation – Entäußerung und Vergegenständlichung – sind Bestandteile in einem dialektischen Prozess. […] Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt.“ (Berger; Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, FfM 1980, S. 65)
Zur Ethik autonomer Roboter
Als angewandte Ethik beschäftigt sich die Roboterethik hauptsächlich mit der Frage, welche Rolle Roboter in sozialen Handlungszusammenhängen spielen. Auf der einen Seite geht es um Roboter als „moralische Maschinen“, welche es so zu programmieren gilt, dass ihre Aktionen möglichst keine Schäden verursachen. Dabei steht vor allem die Entwicklungsphase von Robotern im Fokus. Hier gilt es, Wechselwirkungen zwischen Technik und Gesellschaft angemessen zu antizipieren. Man muss mögliche Folgen des Technikeinsatzes abschätzen und überprüfen, welche Werte in die Robotertechnik eingeschrieben werden. Wichtig ist vor allem, neben den rein technischen oder ökonomischen Wertesettings soziale Werte zu berücksichtigen. Continue reading “Zur Ethik autonomer Roboter”
Sprachspielirrungen
„Eine andere Möglichkeit wäre es gewesen, einen sogenannten populärwissenschaftlichen Vortrag zu halten, also einen Vortrag, der ihnen weismachen soll, Sie verstünden etwas, was Sie in Wirklichkeit gar nicht begriffen haben, was hieße, einen der nach meiner Überzeugung schnödesten Wünsche des modernen Menschen zu befriedigen, nämlich die oberflächliche Neugier auf die jüngsten wissenschaftlichen Entdeckungen.“ (Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, FfM 1989, S. 9)
Sentenzartig kann dann angetäuscht werden, ein dezidiert wissenschaftliches Sprachspiel zu beherrschen. Aber die nötige „Tiefe“ fehlt und das Durchhalten der Fähigkeit, variierende Anwendungsfälle begrifflich plausibilisieren zu können. Ein prätentiöser Sprachstil wird zum Selbstzweck. Das Spezialistentum dagegen legitimiert Komplexitätssteigerung im Vokabular; doch gerät es in die Gefahr, selber engstirnig zu werden. Continue reading “Sprachspielirrungen”
Religion und Therapie
Man spricht des Öfteren vom Zerfall der Religionen. Man wähnt, einen globalen sozialen Wandel erkannt zu haben. Doch das Phänomen wird falsch verortet. Richtig wäre, den Zerfall der Religionen zu lozieren allein dort, wo Therapiesysteme expandieren. Andernorts wäre es, allen Beobachtungen zufolge, wohl eher angemessen, von einem Erstarken der Religionen zu reden. Therapeutische Verfahren jedoch lösen dort, wo sie zur Anwendung kommen, religiöse Praktiken des strategischen Identitätsmanagements ab. Sie lösen die religiös institutionalisierten Selbstthematisierungsmodelle ab. Dabei bleibt die funktionale Ausrichtung der Systeme freilich gleich. Beiden, den Religionen als auch den Therapieverfahren, geht es darum, sich um den psychischen Leidensdruck zu “kümmern” bei Personen, welche nicht imstande sind, diesen Leidensdruck mit eigenen Mitteln zu verwalten. Continue reading “Religion und Therapie”
Zum Habitus des Berufswissenschaftlers
Wenn man die Prinzipien der Athletik auf das Feld der Wissenschaft überträgt, geraten einige, zumeist verborgenen Funktionsprinzipien dieses Feldes in den Blick. Wie der Läufer Kilometer sammelt und Fitnesspotentiale akkumuliert, so sammelt der an Theorie orientierte Wissenschaftler Textmengen unter dem Ziel, neben den externen Wissensarchiven gleichsam ein “internes” Archiv, einen Speicher konzentrierten Wissens anzulegen. Berufstheoretiker messen ihre Kondition, ihr “In-Form-Sein” daran, in den Sprachspielen der eigenen Themenressorts Virtuositätssteigerungen anderer Wissenschaftler kontern zu können, um auf dem Markt der Glaubwürdigkeitszuteilung möglichst große Anteile abgreifen zu können. Continue reading “Zum Habitus des Berufswissenschaftlers”
Fake-News als alter Traum der Wissenschaft
Innerhalb der Medienethik stellt der Konstruktivismus ein bedeutendes Theoriemodell dar. Bis vor nicht allzu langer Zeit wurden Konstruktivisten nicht müde, zu betonen, dass es eine Pluralität an Wirklichkeitskonstruktionen und -entwürfen bedürfe. Damit wurde eine starke Opposition eingenommen zu einer Position, welche davon ausgeht, es gäbe so etwas wie eine allgemeine Wahrheit. Demokratie lebt, schrieb Bernhard Pörksen noch im Jahr 2014, “von alternativen, von konkurrierenden Wirklichkeitsentwürfen, die nicht verabsolutiert werden dürfen.” (Pörksen, Konstruktivismus. Medienethische Konsequenzen einer Theorie-Perspektive. Wiesbaden 2014, S. 18).
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Spülmaschinenkonflikte
Die Spülmaschine ist ein Konfliktauslöser erster Güte. An ihr kristallisieren sich Zank und Zwietracht wie an keinem zweiten Haushaltsgegenstand. Unstimmigkeiten entzünden sich an differenten Vorstellungen über die sachgemäße Erreichung der beiden Zielgrößen des Spülmaschinenbetriebs: Packdichte und Sauberkeit. Es soll möglichst viel in die Spülmaschine, doch mit zunehmender Packdichte überlagern sich die zu spülenden Gegenstände und können nicht hinreichend gereinigt werden. In zumeist gleichbleibender Besetzung treten die Streitpartner dann jeweils für den Designationswert Sauberkeit ein und erwehren sich einer zu hohen Packdichte – oder eben umgekehrt. Einer platten Intuition folgend würde man dann mutmaßen, dass Männer eher auf Packdichte setzen, während Frauen für Sauberkeit eintreten und allzu gewagten, verschachtelten Aufbauten von verschmutzten Küchengegenständen eher skeptisch gegenüberstehen. Dabei besteht das Risiko einer zu hohen Packdichte einzig im Überbleiben kleiner, mit dem Fingernagel leicht zu entfernender Knusen an wenigen Geschirrstücken. Das Risiko einer allzu strikten Sauberkeitsdoktrin dagegen besteht schlicht darin, ein wenig schmutziges Geschirr auf die jeweils nächste Spülfuhre aufschieben zu müssen. Diese offensichtlich gänzlich harmlosen Risiken sind kaum in ein Verhältnis zu setzen mit der aggressiven Leidenschaftlichkeit und Konstanz der Konflikte um die Spülmaschine. So steht zu vermuten, dass gerade in gut funktionierenden Paarbeziehungen, in denen substantielle, personenbezogene Streitanlässe überwiegend fehlen, die Spülmaschine zur Konsolidierung eines Streitgegenstandes herangezogen wird, anhand dessen Disharmonien provoziert werden können, an deren raschen Ausräumung man dann wiederum beweisen kann, wie harmonisch die Beziehung ist.
Zur Ethik des Rülpsens
Rülpser sind “schmutzige” Episoden in der Kommunikation. Lautes Aufstoßen stellt nicht einfach bloß eine physiologische Funktion dar. Absichtliches Rülpsen signalisiert einen couragierten Sinn für Frechheit. Damit haben alle Angehörigen legitimer Geschmackskulturen nie etwas anfangen können. Der Rülpser bildet eine Art des Argumentierens, welche die Grundsätze seriöser Diskursführung transzendiert. Während Benimmnormen zur Disziplinierung anhalten, bildet der Rülpser im Verbund mit dem Furz die emanzipatorische Widerstandsfront gegen das abgekarterte Spiel der Selbstdressur. Die Resistance der Frechheit bemüht sich um eine Revitalisierung der Kultur. Frei ist, wer auch rülpst, wenn die Verwandten zu Besuch sind. Der rülpsende Ironiker hat ein Kontingenzbewusstsein erlangt, dass ihn gegenüber der organisierten Ernsthaftigkeit seiner unfreien Mitmenschen in ein Milieu wohltuender Entkrampfung aussetzt. Gerülpst und gefurzt wird, um sich gleichsam behaglichen Lockerungsübungen hinzugeben. Wer sich dieser Annehmlichkeiten widmet, macht sich zum Hofnarr “hoher”, “gepflegter” Gesellschaften. Rülpser sind dann auch Irritationsquellen, Respektsverweigerungen. Sie bilden eine taktlose Alternativkommunikation, welche sich “von unten” gegen jede Form stratifikatorischer Ordnung richtet. Den verkrampften Angehörigen legitimer Geschmackskulturen mag sich nicht erschließen, dass sich hinter Rülpsern und Fürzen ein subversives, hochreflektiertes Bewusstsein verbergen kann, dass für sich selbst längst eine divergente Sozialordnung ausgemacht hat. Rülpser sind die Strategen einer frechen Aufklärung, einer Gegenkultur, welche das Zwangsverhältnis der Sitten zugunsten einer schwarzen Moral auflösen.
Kunst als Langeweile
“Zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht.” (Adorno, Ästhetische Theorie, FfM 1970, S. 9)
Kunst hat es schwer. Adorno eröffnet die Ästhetische Theorie nicht grundlos mit jenen pessimistischen Worten. Als ein Medium unter vielen bietet Kunst nur sehr zurückhaltend Chancen für Anschlusskommunikation. Für manche Kunstwerke wird allein noch durch Museen eine Plattform geschaffen. Zur Folge hat dies, dass ästhetische Theorien zur Legitimation von Kunst diese als sozial funktionslos beschreiben, um so tun zu können, als sei Kunst das letzte soziale Reservoir für moralische Integrität.
Zur Soziologie des Hochstapelns
“Der Imperativ: ‘Du mußt dein Leben ändern!’ impliziert […]: sich selbst an die Hand nehmen, um aus dem eigenen Dasein einen Gegenstand der Bewunderung zu formen.” (Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt am Main 2009, S. 512)
“Jedenfalls konnte mir nicht verborgen bleiben, daß ich aus edlerem Stoffe gebildet oder, wie man zu sagen pflegte, aus feinerem Holz geschnitten war als meinesgleichen, und ich fürchte dabei durchaus nicht den Vorwurf der Selbstgefälligkeit.” (Mann, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Frankfurt am Main 1954, S. 18)
In Gesellschaften, in denen alles damit beginnt, dass jeder auf den eigenen Vorteil bedacht ist, und es damit endet, dass man nur noch in der Weise der Verdrängungs- und Vernichtungskonkurrenz handelt, scheint es nur naheliegend, dass nah- sowie außerlebensweltliche Beziehungen, und zwar im Besonderen jene zwischen Männern, ein stetes, gegenseitiges Abtasten darstellen. Es gibt gewissermaßen stillschweigend ablaufende Prüf- und Taxierungsroutinen, welche alle Personen, mit denen interagiert wird, in relevanten, variablen Kriterien evaluieren und auf einer Vertikalskala zwischen einem attraktiven Oben- und einem verächteten Unten-Pol verzeichnen. Continue reading “Zur Soziologie des Hochstapelns”
Luhmanns Ehepaar
Luhmann, bekanntlich oftmals als Konservativer abgestempelt, ist in Wahrheit das genaue Gegenteil eines konservativen Denkers. Nur ein Beispiel: Foucaults berühmte Wette, dass „der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht aus Sand“ (Foucault, Die Ordnung der Dinge, in: ders., Die Hauptwerke, FfM 2008, S. 463), löst Luhmann, vielleicht hundert Jahre seiner Zeit voraus, bereits ein und destruiert gleichsam die überkommene Demarkation zwischen Mensch und Tier. Dass er dennoch als Konservativer abgestempelt wird, reizt zur Koketterie, um die Kritik zu forcieren, ihr insgeheim in die Karten zu spielen, um sich dann über ihr gnadenloses Missverständnis amüsieren zu können. Eine derartige Verschmitztheit würde Luhmann nur recht stehen. Gegenstand der Koketterie ist in nicht wenigen seiner Werke offensichtlich ein Ehepaar mit klarer, gut konservativer Rollenverteilung. In Die Moral der Gesellschaft behandelt Luhmann das Erwarten von Erwartungserwartungen, also das dreistufige Reflexivwerden der Erwartung. Continue reading “Luhmanns Ehepaar”
Der Alleswisser
Der Alleswisser ist eine Person speziellen Charakters. Er befindet sich in der Regel in einem höheren Fachsemester eines bestimmten Studienfachs, zumeist Philosophie, Informatik oder Jura. Obgleich ein Fachidiot, so fühlt sich der Alleswisser – es handelt sich dabei immer um Männer – in gleich welchem wissenschaftlichen Diskurs zuhause. Er akzeptiert keine disziplinäre Verengung seines Wissens. Allein die Tatsache, dass er durch die akademischen Aufwendungen für sein eigentliches Studienfach semantische Verkomplizierungsstrategien erlernt und sich einen kleinen Pool an Fremdwörtern, Autorennamen, Ismen und Argumentationsfiguren angeeignet hat, verleitet ihn zu dem Glauben, dass er damit zum automatischen Teilnehmer an beliebig vielen weiteren wissenschaftlichen Diskursen und Debatten wird, in denen er mit harten Überzeugungen auftreten darf. Dies tut er jedoch freilich nicht im eigentlichen Umfeld des Faches, sondern vor einem ahnungslosen, fachfremden Publikum, welches die intellektuelle Unredlichkeit des Alleswissers nicht recht erkennt. Tatsächlich charakterisiert den Alleswisser jedoch eine ausgeprägte Respektlosigkeit gegenüber wissenschaftlicher Forschung. Weil er meint, sich ein Fachgebiet durch das Lesen von ein oder zwei Papern zur Gänze erschlossen zu haben, verkennt er die eigentliche Komplexität, mit welcher die Wissenschaften die Dinge überziehen. Doch der große Auftritt, das Vorführen sprachakrobatischer Kunststückchen ist dem Alleswisser alles. Ihm geht es, wie Hochstaplern generell, um das Ergaunern von Anerkennung durch geschickte Eindrucksmanipulation beim Publikum. Die tatsächlichen Forschungsleistungen, welche in unzähligen Gebieten in aufwendiger Arbeit unter Beisteuerung von millionenschweren Drittmitteln bereits erbracht worden sind, interessieren den Alleswisser freilich nicht. Er hat nicht die Mittel, sich in die Forschung wirklich einzuarbeiten. Es bleibt beim Theater der Sprache.
“Was ich die Sünde gegen den heiligen Geist genannt habe – die Anmaßung des dreiviertel Gebildeten –, das ist das Phrasendreschen, das Vorgeben einer Weisheit, die wir nicht besitzen.” (Popper, Wider die großen Worte, in: Die Zeit, Nr. 39, 1971, S. 8)
Konstruktivistische Irrungen
Klassisch pflegt man die Vorstellung einer Realität, welche “hinter” der Sprache, der Erkenntnis, den Vorstellungen liegt. Was als Außenwelt verhandelt wird, muss jedoch eingeholt werden als Hilfskonstrukt, um Zirkelschlüsse zu vermeiden. Über den Weg der Introspektion wird man nicht weiter kommen als zu dem Schluss, dass das Erkennen nicht selbst erkannt werden kann. Bei der Frage nach der Selbstbegründung des Erkennens setzt der Konstruktivismus an, indem er für eine „Ent-Ontologisierung“ der Realität votiert. Dies wird über die Einführung von Nichtanwendungsgeboten der Unterscheidung Sein/Nichtsein vollzogen. Und plötzlich sieht man, dass Erkenntnis – wenngleich nicht beliebig – produziert werden kann. Kommunikation, gerade jene massenmedialer Provenienz, wird eine wirklichkeitskonstitutive Funktion zugeschrieben. Es gibt nicht mehr “die” Realität, sondern nur noch differente Realitätsbeschreibungen. Die Konfrontation mit bestimmten Realitätsbeschreibungen führt zu bestimmtem Wissen und bestimmtem Nichtwissen. Man kann dann auf die Idee kommen, sich bestimmten Realitätsbeschreibungen, etwa solchen, welche von Grausamkeiten handeln, gegenüber zu verwahren. Vermeidungs- oder Abwehrhaltungen können aufgefahren werden, um Nahkonfrontationen gefürchteter Realitätsbeschreibungen ausschließen zu können. Ein solcher Effekt macht sich insbesondere in solchen Fällen bemerkbar, in welchen Gewalt gezeigt oder beschrieben wird. Man wendet sich ab oder hält sich die Augen zu. Wer tapfer ist, schaut dann doch hin, um dann aber zu bemerken: “Wenn ich mir das weiter ansehe, kann ich kein Schweinefleisch mehr essen.” Aber man kommt nicht umhin, die Naivität dieses Gestus zu bemerken. Schließlich muss, wer sich abwendet, ja schon Kenntnis darüber erlangt haben, dass man sich abwenden müsse. Wer sich abwendet, weiß bereits genug. Realität entsteht aus der Vermeidung von Konsistenzproblemen, also aus dem Widerstand von Kommunikation gegen Kommunikation. Abwendungsbewegungen resultieren aus der Erfahrung dieses Widerstandes, aus erfahrenen Realitätsindikationen, deren volle “Breitseite” man jedoch nicht zu spüren bekommen will. Schließlich will man beispielsweise eigene Gewohnheiten beibehalten und sich der Kritik daran erwehren können. Vorwürfe, dass man sich durch bestimmte Verhaltensweisen schuldig mache, können so als unzutreffend abgewiesen werden, ohne dass wirksame Selbstkorrekturmechanismen einsetzen.