Moral am Limit

Das Reflexivwerden der Moral nennt sich Takt. Takt besitzt, wer Moralisierungen reflektiert und auf ihr mögliches Konfliktpotential und auf Konfliktrisiken hin abtastet, sodass Konflikte durch Takt eingedämmt werden. Takt spielt demnach immer nur eine Rolle in der Interaktion Anwesender. Alsbald moralische Kommunikation nicht mehr zwischen Ego und Alter stattfindet, sondern zwischen Ego und Tertius das Verhalten Alters mit einer eigentümlich unbelasteten Vertrautheit moralisiert wird, kann Takt durch Opportunismus eingetauscht werden. Auch so werden Konfliktrisiken eingedämmt. Gegenüber einem Dritten kann auf die interaktionell notwendigen Rücksichten, welche Alter gegenüber erforderlich wären, verzichtet werden. Was in der Kommunikation mit Alter offensichtlich zum Konflikt führen würde, kann mit Tertius konfliktfrei besprochen werden. Dabei kann moralische Kommunikation, da sie über das wechselseitige Zuschreiben von Achtung und Missachtung zustande kommt, sich zu Verachtungsbekundungen, Zorn oder gar Wut steigern, um die Unmöglichkeit zu kompensieren, welche darin besteht, Kommunikationsteilnehmer, welche Moralgeboten nicht folgen, nicht exkludieren zu können. Die Unmöglichkeit moralischer Kommunikation, missachtete Kommunikationsteilnehmer einerseits exkludieren und andererseits überzeugen und Achtungskonnexe konsensuell zuschneiden zu können, deutet darauf hin, dass für Moralisierungen Ein- und Ausschaltungswerte bestimmt werden, welche in etwa anordnen, ob ein Thema moralisiert werden sollte oder nicht. Und moralisiert werden sollte nur, wenn es brenzlig wird. Moral moralisiert derart Moralisierung. Alsbald aber Moral zu ihrer eigenen Reflexionstheorie wird, sieht sie, dass moralische Kommunikation, da sie normative Überzeugungen und Meinungen sanktioniert, Verständigung ausschließt mit denjenigen, welche moralisch je unpassende Überzeugungen und Meinungen vertreten – diese fallen dem Bereich irrelevanter anderer zu.

„Sie [die Moral] setzt das Schema von Achtung/Mißachtung ein mit der Folge, daß sich der Bereich der möglichen Auffassungsperspektiven (unendlich groß) splitten läßt in den Bereich relevant anderer bzw. irrelevant anderer und ignorabler Auffassungsperspektiven. Moral ist die operative Regulierung von Bedingungen für Achtung bzw. Nichtachtung zwischen Menschen.“ (Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, FfM 1992, S. 140 f.)

Die Berufung auf moralische Grundsätze wirkt belastend auf Kommunikation, deren Fortsetzung intendiert wird. Die kommunikative Vernunft wird alsdann rasch zu einer kämpfenden, allein auf die eigenen Interessen und Wunschsetzungen regredierenden Vernunft, anhand derer die Kommunikation, auf die es ja eigentlich ankommt, „verzerrt“ wird. Persuasion in taktvoller moralischer Kommunikation ist demnach paradoxerweise durch den Verzicht auf Persuasion zu erreichen. Diese Einsicht hat es in die Praxis geschafft; Aktivisten etwa „missionieren“ oft, indem sie ankündigen, nicht zu missionieren. Dadurch soll verhindert werden, dass der zu überzeugende Andere provoziert wird, kommunikative Maßnahmen zur Persuasionsabwehr einzuleiten. Wer überzeugen will, muss wissen: Nicht Mahnungen, Erziehungsversuche oder „Argumente“ überzeugen, sondern die bloße Übermittlung von Information, welche gleichsam als Überraschung fungiert und Alter irritiert. Information ersetzt Persuasion, Irritation ersetzt Direktion. Im Kontrast zu Habermas kann man die Bereitschaft der Dialogteilnehmer, ihre Meinungen und Überzeugungen zugunsten des je wohlbegründeteren Arguments zu korrigieren, nicht als Bedingung verständigungsorientierter Kommunikation sehen – ganz im Gegenteil: verständigungsorientierte Kommunikation sollte nicht die Ambition haben, Alter zur Aufgabe seiner Meinungen und Überzeugungen zu bewegen. Ziel der Kommunikation ist es vielmehr, Unsicherheit und Irritation zu erzeugen. Die Vermittlung eigener herausragender Erlebnisse oder beeindruckender Fremderfahrungen, das Aufzeigen von für die Betroffenen relevanten Folgen, das Abzielen auf Besserung anstatt auf totale Problemlösung (vgl. Watzlawick, Die Möglichkeit des Andersseins. Zur Technik der therapeutischen Kommunikation, Bern 1977, S. 64 f.) oder auch die Berufung auf unbekannte, aber verlässliche Autoritäten können dabei nützlich sein. Alter ist hinsichtlich der Verunsicherungen, welche derart provoziert werden, hinsichtlich des „drohende[n] Meer[es] des Ungewissen“ (Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1967, S. 302) dem Drang unterworfen, nach Mitteln und Wegen der Behebung der Unsicherheit zu suchen. Weder ein vorsprachlich garantierter Konsens, bedingte etwa durch traditionsgestützte Sprachspiele, noch die argumentationstheoretisch gestützte Herbeiführung von Konsens qua „rational“ motivierter Einverständnisse kennzeichnet „postmoderne“, zynische Sprachspiele. Fängt man erst einmal an, Sollsätze und normative Aussagen einerseits zu begründen oder andererseits zu kritisieren, hat man meistens – gegen Zyniker sowieso – schon verloren. Normative Geltungsansprüche werden weniger diskursiv eingelöst, als dass sie verpuffen. Von interaktionsfolgerelevanten Verbindlichkeiten ganz zu schweigen. Zu sagen, Fleisch zu essen sei schlecht, hat noch keinen zum Veganer gemacht. Zu begründen, warum Fleisch zu essen schlecht ist, auch nicht. Was also bleibt der Moral? Sie kann Systeme irritieren. Dies gilt für Personen, verstanden als Zurechnungspunkte für Kommunikation, ebenso wie für ganze Funktionssysteme. Dabei bedeutet Irritation nicht gleich Determination. Die Alltagsmoral einer Öffentlichkeit etwa kann Funktionssysteme, welche über symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien verfahren, derart irritieren, dass geplante Operationen unterbrochen werden. Wirtschaftsunternehmen oder politische Parteien können durch öffentlichen Protest zum Einlenken bewogen werden. Weil aber Irritation nicht gleich Determination bedeutet, endet Protest gegen politische und wirtschaftliche Systeme doch in nahezu allen Fällen darin, dass zwar diverse Stellungnahmen publiziert werden, in denen in bester Rabulistik in die Defensive gegangen wird, die Reformen und Investitionen schlussendlich aber dennoch in Kraft treten bzw. durchgeführt werden. Moral ist ja, entgegen von Macht, Geld oder Liebe, in der Regel kein Motivationsverstärker. Wenn Kommunikation um die Funktion zentriert ist, Selektionsofferten zu übertragen, so ist die Ablehnungswahrscheinlichkeit bei moralischer Kommunikation relativ hoch und die taktvollen Überzeugungsanstrengungen noch höher.