Luhmann, bekanntlich oftmals als Konservativer abgestempelt, ist in Wahrheit das genaue Gegenteil eines konservativen Denkers. Nur ein Beispiel: Foucaults berühmte Wette, dass „der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht aus Sand“ (Foucault, Die Ordnung der Dinge, in: ders., Die Hauptwerke, FfM 2008, S. 463), löst Luhmann, vielleicht hundert Jahre seiner Zeit voraus, bereits ein und destruiert gleichsam die überkommene Demarkation zwischen Mensch und Tier. Dass er dennoch als Konservativer abgestempelt wird, reizt zur Koketterie, um die Kritik zu forcieren, ihr insgeheim in die Karten zu spielen, um sich dann über ihr gnadenloses Missverständnis amüsieren zu können. Eine derartige Verschmitztheit würde Luhmann nur recht stehen. Gegenstand der Koketterie ist in nicht wenigen seiner Werke offensichtlich ein Ehepaar mit klarer, gut konservativer Rollenverteilung. In Die Moral der Gesellschaft behandelt Luhmann das Erwarten von Erwartungserwartungen, also das dreistufige Reflexivwerden der Erwartung.
„So erwartet die Hausfrau, daß ihr Mann abends von ihr kaltes, nicht aber warmes Essen erwartet. Der Mann muß seinerseits diese Erwartungserwartung miterwarten können, weil ihm nur so klar werden kann, daß er mit einem unerwarteten Wunsch nach warmem Essen nicht nur Ungelegenheiten bereitet, sondern auch die Erwartungen seiner Frau in Bezug auf sein Erwarten durcheinanderbringt, was, wenn wiederholt betrieben, sehr weittragende Unsicherheiten zu Folge haben kann. Diese dreistufige Reflexivität ermöglicht rasche und rücksichtsvolle, kommunikationslose Verständigung, die nicht nur die Erwartungen, sondern auch die Erwartungssicherheit des Partners mit in den Bereich der Beachtlichkeit einbezieht – allerdings mit entsprechend gesteigerten Irrtumsrisiken, die wohl nur in sehr kleinen Sozialsystemen in engen Grenzen gehalten werden können.“ (Luhmann, Die Moral der Gesellschaft, FfM 2008, S. 32)
Ein anderes Mal finden wir Luhmanns Ehepaar im Auto wieder. Hier geht es weniger um Erwartungen und Erwartungserwartungen, sondern um den Nexus von Erleben und Handeln.
„Die Ehen werden im Himmel geschlossen, im Auto gehen sie auseinander. Denn derjenige, der am Steuer sitzt, richtet sich nach der Situation und fährt, wie er meint, auf Grund seines besten Könnens; aber der, der mitfährt und ihn beobachtet, fühlt sich durch die Fahrweise behandelt, führt sie auf Eigenschaften des Fahrers zurück. Er kann nur in einer Weise handeln, nämlich kommentieren und kritisieren; und es ist wenig wahrscheinlich, daß er dabei die Zustimmung des Fahrers findet. Im Taxi hätte man (von Extremfällen abgesehen) wenig Anlaß, darüber zu kommunizieren. Bei Intimbeziehungen wird jedoch genau diese Situation zum Test auf die Frage: handelt er so, daß er meine (und nicht seine) Welt zu Grunde legt? Und wie könnte man davon absehen, bei Zweifeln den Versuch einer kommunikativen Klärung zu unternehmen, wenn man anderenfalls mit resigniertem Schweigen sich und dem anderen sagen würde, daß man den Test nicht riskiert?“ (Luhmann, Liebe als Passion, FfM 1982, S. 42)
Dass sich Luhmanns Ehepaar scheinbar ausgezeichnet dafür eignet, zu demonstrieren, wie Kommunikation ohne Sprache stattfinden kann, zeigt ein weiteres Beispiel, obgleich hier die Ehefrau durch Verzicht auf das Medium Sprache die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation an der Stelle der Selektion des Verstehens unfreiwillig steigert.
„Die Unwahrscheinlichkeitsschwelle sehen wir in der Frage, wie jemand überhaupt dazu kommt, einen anderen unter dem Gesichtspunkt einer Differenz von Information und Mitteilungsverhalten zu beobachten. Wir gehen also nicht von der Sprechhandlung aus, die ja nur vorkommt, wenn man erwarten kann, daß sie erwartet und verstanden wird, sondern von der Situation des Mitteilungsempfängers, also dessen, der den Mitteilenden beobachtet und ihm die Mitteilung, aber nicht die Information, zurechnet. Der Mitteilungsempfänger muß die Mitteilung als Bezeichnung einer Information, also beides zusammen als Zeichen […] beobachten […]. Dies setzt nicht unbedingt Sprache voraus. So sieht man, daß die Hausfrau tapfer vom Angebrannten ißt, um mitzuteilen (oder so vermutet man), daß man es sehr wohl noch essen könne. Dabei bleibt der Tatbestand der Kommunikation jedoch unscharf und mehrdeutig, und der Mitteilende kann, zur Rede gestellt, leugnen, eine Mitteilung beabsichtigt zu haben; und eben deshalb wählt er nonverbale Kommunikation.“ (Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, FfM 1997, S. 210)
Bevor die „Hausfrau tapfer vom Angebrannten ißt“, muss sich folgendes ereignet haben:
“Ein Schwatz auf dem Dorfplatz ist möglich, aber irgendwann müssen die Frauen nach Hause, um für je verschiedene Männer Essen zu kochen […]” (Luhmann, Die Moral der Gesellschaft, S. 138 f.)
Bald tritt auch der Mann ins Haus ein,
“die Frau ist in der Küche. Man möchte jetzt natürlich erst Mal zum Schreibtisch gehen, um zu sehen, was die Post gebracht hat, aber wenn man das tut, weiß man genau, dass sie [die Ehefrau] eine Vernachlässigung darin sieht. Also geht man in die Küche. Sie aber weiß, dass man nur deswegen in die Küche sieht, weil sie andernfalls annehmen würde, sie würde vernachlässigt werden. […] Das wiederum führt in die typische Familientherapiesituation einer nicht ausgesprochenen Paradoxie: ‚Ich tue das, was du willst, mit dem Bewusstsein, dass du siehst, dass ich das deshalb tue. […] Man will nicht wirklich wissen, was der andere über einen denkt.“ (Luhmann, Interview mit Kluge, Datum unbekannt)
Zwar ist es zumeist der Ehemann, der auf die Paradoxien aufläuft, indem er in die Rolle des Weltbestätigers gedrängt wird. Die Ehefrau dagegen erwartet Identifikation mit ihrem Erleben, lebt dabei jedoch in der steten Unsicherheit, dass idiosynkratische Selektionen nicht bestätigt werden und das Korrespondenzhandeln an seiner Unwahrscheinlichkeit zusammenbricht. So bleibt die Feststellung:
„Die Behandlung von Frauen ist immer Kultur, aber nicht immer kultiviert.“ (Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, FfM 1997, S. 884)